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Birgit Lutherer 

Karin und Anika

 

Es ist ein sonniger Nachmittag im September. Karin hat mich zu sich nach Hause eingeladen.

Sie ist eine dieser von ihrem Kind verlassenen Mütter. Ihre Tochter Anika brach vor eineinhalb Jahren den Kontakt zu ihr ab.

Während unseres ersten Telefongesprächs erklärte mir Karin, sie versuche alles, um mit ihrer Situation einigermaßen zurechtzukommen. Ihr Leben sei vollkommen aus dem Lot geraten, seitdem Anika keinen Kontakt mehr zu ihr wünscht. Nichts sei mehr wie zuvor. Karin sucht Antworten. Antworten zum Beispiel auf die Fragen: „Warum hat Anika das getan?“ Und: „Was habe ich falsch gemacht?“

Durch ein Gespräch mit mir hofft Karin zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.

 

Das macht niemand einfach nur so

 

Auf dem Weg zu Karin denke ich darüber nach, was in einem Menschen wohl vor sich gehen mag, bevor er sich entschließt, den Kontakt zur Familie, genauer gesagt zur Mutter, abzubrechen. Diesen rigorosen Schritt macht schließlich niemand einfach nur so. Sind da vielleicht Einflüsse von außen im Spiel? Vielleicht ein neues soziales Umfeld? Oder spielt der Partner oder die Partnerin eine Rolle? Beeinflusst der berufliche Kontext dieses ungewöhnliche Verhalten?

Denkbar wäre auch, dass der Prozess des Abnabelns von der Mutter zu schmerzhaft ist, sodass eine vermeintliche Lösung in der Abkehr gesucht wird. Verspricht sich derjenige, der den Kontakt zur Mutter abbricht, unter Umständen Linderung dadurch?

Mein Navi durchbricht meine Gedanken und weist mich an, an der nächsten Ampelkreuzung rechts abzubiegen. Die Straße führt mich in ein Wohngebiet. Einige hohe Bäume säumen den Straßenrand. Hinter gepflegten Vorgärten und akkurat geschnittenen Hecken

befinden sich gemütlich wirkende Häuser.

In einem dieser Häuser wohnt Karin mit ihrer Familie.

Hausnummer 10. Hier ist es. Ich habe mein Fahrtziel erreicht. Langsam fahre ich die kurze Auffahrt bis zur Garage des Hauses hinauf. Karin hatte mir bei unserem letzten Telefonat angeboten, dort mein Auto zu parken. Als ich aussteige, empfängt mich der wohlige Geruch von frisch gebackenen Waffeln und Kaffee. Ich parke genau unter dem leicht geöffneten Fenster der Küche, wie sich später herausstellt.

Ich gehe den gepflasterten Weg von meinem Auto zur Haustüre entlang. Auf den beiden Eingangsstufen aus anthrazitfarbenem Granit stehen rechts und links der Haustüre liebevoll bepflanzte Blumenkübel. Über einem der Kübel, etwa auf Augenhöhe, hängt eine schön verzierte Tafel aus Ton. In lustig bunten Buchstaben ist darauf zu lesen: Hier wohnen Klaus, Karin, Anika, Veronika und Wuff. Neben Wuff ist ein großer Abdruck einer Hundepfote zu sehen.

Ich drücke auf den Klingelknopf, der sich unterhalb der Tontafel befindet. Ein angenehmer Gong ertönt dreimal hintereinander. Es dauert nicht lange und eine gut gekleidete, propere Frau öffnet mir die Türe.

„Schön, dass Sie mich in unserem Zuhause besuchen kommen“, begrüßt sie mich freundlich. „Bitte, kommen Sie doch herein. Ich freue mich, Sie nun persönlich kennenzulernen.“

Karin und ich hatten bisher zwar mehrmals miteinander telefoniert, uns aber bis jetzt noch nie persönlich getroffen.

Ich folge Karin durch das Eingangsentree in das sich anschließende Wohnzimmer. Dort steht eine große Türe, die in einen gepflegten Wildgarten führt, weit offen.

„Oh je!“, stößt Karin hervor, als sie die sperrangelweit geöffnete Türe entdeckt. „Ich habe ganz vergessen, sie zu schließen. Wuff sollte doch draußen bleiben!“

Aber da ist es schon zu spät. Von einem tiefen „Wuff“ begleitet trabt ein großer Bernhardiner auf mich zu.

„Aha, das ist also Wuff. Hallo, Wuff“, begrüße ich ihn. „Du machst deinem Namen ja alle Ehre!“

„Wuff ist schon lange in unserer Familie“, erzählt mir Karin. „Wir haben ihn schon als Welpen bekommen. Damals waren unsere Mädchen zwölf und dreizehn Jahre alt. Sie wollten unbedingt einen Hund. Klaus und ich haben uns damals breitschlagen lassen. Na ja, ehrlich gesagt, waren wir ja auch von Anfang an in Wuff verliebt. Er passt einfach in unsere Familie. Wir sind auch manchmal so gemütlich und tapsig wie er. Ach ja, damals…,“ sagt Karin wehmütig. Ein trauriger Blick trübt ihre bis gerade noch lustige Augen. „Aber lassen Sie uns doch eine Tasse Kaffee trinken“, lädt sie mich bemüht freundlich ein. Ich bemerke, dass Karin um Fassung ringt.

Wir nehmen an einem ovalen Holztisch Platz. Hier ist schon eine Kaffeetafel für uns beide gedeckt. Ein apart duftender Strauß rosafarbener Freilandrosen ziert den Tisch.

Interessiert schaue ich umher. Es ist ordentlich aufgeräumt, überall. Unbenommen dessen strahlt das Wohnzimmer eine heimelige Gemütlichkeit aus. Dadurch, dass an einigen Stellen auch Zeitungen, Strickzeug und Spielzeug von Wuff herumliegen dürfen, wirkt es bewohnt.

Mein Blick fällt auf ein Sideboard. Nett drapiert stehen, in schönen Rahmen aufgestellt, Fotos der Familie darauf.

„Darf ich mir die Fotos nachher einmal anschauen?“, frage ich Karin.

„Natürlich!“, antwortet sie mir, während sie mir Kaffee in meine Tasse gießt. „Schließlich haben wir uns ja heute verabredet, um über Anika und mich zu reden.“ Wieder huscht ein trauriger Ausdruck über Karins Gesicht. Ich erahne, dass unser Gespräch heute für Karin eine riesige Herausforderung ist.

Karin bietet mir eine frisch gebackene Waffel an. Gerne greife ich zu. Ein wenig Süßes und der Kaffee dazu, werden uns beiden jetzt guttun.

 

 

„Wir waren stolz und überglücklich“

 

Während wir beinahe im Gleichklang mit dem Löffel unseren Kaffee umrühren, beginnt Karin zögerlich zu erzählen.

„Sie wissen ja“, setzt Karin an. Sie atmet dabei so schwer, als würde eine zentnerschwere Last sie niederdrücken. „Mein Mann Klaus und ich haben zwei Töchter, Anika und Veronika. Wir lieben beide sehr “, fährt Karin bedrückt fort, „das habe ich Ihnen ja schon am Telefon erzählt. Anika ist unsere Erstgeborene. Wie haben wir uns damals gefreut, als uns meine Frauenärztin bei einer Ultraschalluntersuchung verkündete, dass wir ein kleines Mädchen bekommen werden. Mein Mann war ganz aus dem Häuschen vor Freude darüber. Zuhause hat er mich gepackt und ist mit mir quer durch unser Wohnzimmer getanzt. Anika ist unser Wunschkind. Ich weiß, es hört sich für Sie vielleicht furchtbar schnulzig an, aber Anika ist ein Kind der Liebe. Ein Kind, das aus tiefer Liebe heraus entstanden ist.“

Karin macht eine kurze Pause und nimmt ihre Kaffeetasse in die Hand. Nachdenklich schaut sie auf den Inhalt ihrer Tasse, bevor sie einen Schluck trinkt. Auch ich nutze die kurze Pause, um meinen Kaffee zu trinken und einen Bissen von meiner noch warmen Waffel zu nehmen.

„Die Schwangerschaft“, erzählt Karin weiter, „verlief ganz unproblematisch. Auch Anikas Geburt war ganz normal. Ich erinnere mich noch genau: Drei Tage nach dem errechneten Geburtstermin setzten am Vormittag die Wehen ein. Ich dachte noch: ´Gott sei Dank! ´. Noch drei Tage später und Anika würde mit ihrem Vater zusammen Geburtstag feiern müssen. Das hätte ich nicht schön gefunden. Jeder soll doch ein Recht auf seinen eigenen Geburtstag haben. Aber das ist ja noch mal gut gegangen.“

Ich spüre deutlich, wie wichtig Karin das war. Sie erzählt das mit solch einem vehementen Unterton, dass ich den Eindruck gewinne, sie könnte auch eine Kämpferin für Gerechtigkeit sein.

„Nachdem ich Klaus benachrichtigt hatte, dass es losgeht, kam er sofort nach Hause gefahren und holte mich ab, um mit mir gemeinsam in die nahegelegene Geburtsklinik zu fahren. Um Viertel nach acht Uhr abends war es dann geschafft. Unsere kleine Anika war geboren. Klaus und ich hielten ein zartes, kleines Mädchen in unseren Armen. Wir waren stolz und überglücklich.“

 

„Ich wollte alles richtig machen“

 

„Wie war Anika denn so als Kind?“, möchte ich von Karin wissen.

„Anika war ein sehr sensibles Kind. Vom ersten Tag an war es für mich eine echte Herausforderung, das rechte Maß für Anika zu finden.“

Ich falle Karin etwas forsch ins Wort, denn ich möchte nachfragen, was sie mit dem rechten Maß meint.

„Entschuldigen Sie bitte, Karin, ich unterbreche Sie nur ungerne. Aber ich möchte genau verstehen, was Sie mir erzählen. Wenn Sie davon sprechen das rechte Maß für Anika zu finden, was meinen Sie damit? Ich assoziiere damit eine vorgegebene Normgröße, so wie etwas sein muss. Kann ich das so verstehen? War es für Sie eine Herausforderung bei der Erziehung Anikas den üblichen Anforderungen zu genügen? Erklären Sie es mir bitte.“

Karin schaut mich etwas verdutzt an. Sie überlegt einen Moment. Langsam wird ihr bewusst, dass der Begriff „Maß“ in diesem Kontext in der Tat irreführend sein kann.

„Klar, Sie haben vollkommen Recht. Gut, dass Sie mich unterbrochen haben. Sie hätten sonst vielleicht einen vollkommen falschen Eindruck von mir und Anika bekommen können. Nein, nein. Natürlich wollte ich Anika nicht in eine Norm zwängen. Sicher, ein gewisses Maß an Anpassung an die Gesellschaft muss natürlich schon sein. Das ist meiner Meinung nach schließlich die Grundlage für eine funktionierende Gesellschaft. Aber viel wichtiger war mir immer schon, dass Anika sich frei entfalten kann und dass aus ihr ein zufriedener erwachsener Mensch wird.“ Karin spricht mit so viel Überzeugung, dass ich ihr ohne Zweifel glaube, wie ernst ihr dieses Anliegen war. „Das´rechte Maß´bezog sich auf Anikas Sensibilität. Ich wollte es Anika recht machen. Ich wollte alles richtig machen. Verstehen Sie, keiner sollte mir vorwerfen können, dass ich mich nicht gut genug um sie kümmere“, erklärt sie mir. „Aber leider gelang es mir nicht. Tatsächlich war es so, dass ich es Anika nie recht machen konnte. Es war für sie immer ein Zuviel oder ein Zuwenig. Ein ´Richtig´ gab es selten. Es begann, schon kurz nachdem ich mit Anika aus der Geburtsklinik nach Hause kam. Sie verweigerte oft ihr Fläschchen. Wenn sie trank, dauerte es sehr lange, bis sie wenige Milliliter Milch getrunken hatte. Sie wollte auch nicht von mir gestillt werden. Nach der Entbindung versuchte ich mit viel Geduld, ihr die Brust zu geben. Die Hebamme und das Pflegepersonal unterstützten mich sehr dabei. Es war vergebens. Irgendwann haben wir es dann aufgegeben. Mit der Flasche klappte es dann wenigstens einigermaßen. Ich war zwar nicht glücklich mit dieser Lösung, aber wenigstens konnte ich täglich sehen, dass Anika ein paar Gramm an Körpergewicht zulegte. Ich dachte, damit wäre es jetzt gut.

Zuhause fingen die Schwierigkeiten wieder von vorne an. Anika wollte nicht trinken. Schlafen wollte sie auch nicht. Es stellte sich irgendwann ein Rhythmus ein. Anika trank etwa dreißig Minuten etwas Milch aus dem Fläschchen, danach brachte ich sie in ihr Bettchen, dann weinte und schrie sie erst einmal fürchterlich. Ich hatte Mühe, Anika zu beruhigen. Es kostete mich viel Geduld und Kraft. Wenn Anika dann ruhig wurde und ich Glück hatte, schlief sie eineinhalb bis zwei Stunden - bis dann das Ganze von vorne losging. So ging das Wochenlang, rund um die Uhr.“

 

 

„Ich schaffe das schon. Davon war ich fest überzeugt“

 

„Ich machte mir große Sorgen um Anika. Der Kinderarzt, zu dem ich wöchentlich ging, beruhigte mich und sagte, dass gäbe sich wieder. Anika nähme doch zu, sie sei gesund. Sie entwickle sich so, wie es im Kurvenverlauf des Vorsorgehefts angegeben sei. Damit war für ihn alles in Ordnung. Ich musste es also nur irgendwie aushalten.“

Ich vernehme deutlich einen schweren Seufzer, den Karin ausstößt. Die ganze Belastung, das ganze Ausmaß der Situation ist noch einmal sehr präsent in ihr hochgestiegen. Die Schwere ist selbst für mich geradezu greifbar. Ich habe großen Respekt vor dieser Leistung.

„Hatten Sie Unterstützung in dieser Zeit?“, frage ich Karin. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Mensch das alleine aushalten und verkraften kann.

 

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